Digital Twin statt Tabellen

Der Gebäudelebenszyklus der Zukunft

Digitale Zwillinge eröffnen einen 360°-Blick auf den gesamten Lebenszyklus von Bauprojekten: von der Planung über den Bau bis hin zum Gebäudebetrieb und den damit verbundenen Anpassungen an neue bzw. geänderte Nutzungsfunktionen. Die Vorteile dieser ganzheitlichen Datenbasis sind dabei noch nicht ausgeschöpft. Auch bei dem Rückbau von Gebäuden profitieren alle Beteiligten von lückenloser Transparenz – hier z. B. wenn es um die digitale Transformation bestehender Industrieanlagen geht. Denn die durchgängige Digitalisierung ist die Basis für Künstliche Intelligenz (KI) und Augmented Reality.

Es dauert i. d. R. mehrere Jahre, bis ein geplantes Gebäude fertig und abgenommen ist. In jeder Phase des Bauprojekts - ob bei der Finanzplanung, im Design, im (Rück-)Bau oder im Gebäudebetrieb schlummern Einsparpotenziale, aber auch Quellen für Fehler, Mehrkosten und Verzögerungen. Die Gründe dafür sind meist vielfältig und können z. B. Datensilos und „Medienbrüche“ in den Teilprozessen sowie Missverständnisse und den Verlust entscheidender Informationen zwischen den Gewerken betreffen. Dabei strapaziert die Informationsschere oft den Zeit- und ­Budgetrahmen von Bauprojekten und verschenkt so Effizienzpotenziale in der Nutzungsphase einer Fabrik oder Anlage.

Realität abbilden – Realität verstehen – Realität gestalten: Ein digitaler Zwilling (Digital Twin) macht diesen Dreiklang möglich. Als zentrale Datendrehscheibe verknüpft diese „Single Source of Truth“ mithilfe der passenden APIs Planungsdaten, Informationen aus MES/ERP-Systemen, Betriebszustände, Wartungshistorien und sogar Sensordaten in Echtzeit. So entsteht ein holistisches Modell, das nicht nur den Status Quo abbildet, sondern die Verantwortlichen mittels Simulationen und „Was wäre wenn“-Szenarien zu datenbasierten Entscheidungen befähigt. Das Potenzial digitaler Zwillinge reicht dabei weit über das Architekturbüro und die Baustelle hinaus - bis hin zur Shopfloor-Optimierung und Personalplanung.

Finanzplanung: Simulieren statt schätzen

Ob sich ein Investment lohnt, basiert auf statistischen Kalkulationen und oft auch auf Bauchgefühl. Doch selbst bei der besten Kalkulation können unerwartete Kosten oder Zwischenfälle nicht immer vollkommen ausgeschlossen werden. Anhand eines digitalen Modells, angereichert mit Machbarkeitsstudien, Angaben zu Umwelteinflüssen und/oder Beschaffungsinformationen lässt sich bereits in der finanziellen Konzeptphase simulieren, wie sich unterschiedliche Bauvarianten auf die Ressourcenverfügbarkeit, Kosten und den Zeitrahmen auswirken. Was, wenn es in der Supply Chain knirscht? Das können die Verantwortlichen in Simulationen durchspielen und Gegenmaßnahmen samt finanzieller Auswirkungen mithilfe eines digitalen Zwillings leichter abschätzen. So lässt sich der gefürchtete „Scope Creep“ einfangen.

Ist die Investitionsentscheidung gefallen, geht es in die detaillierte Planung. Hier verbinden digitale Zwillinge 3D-Modelle mit dazugehörigen Daten, technischen Spezifikationen, funktionalen und betrieblichen Anforderungen sowie unzähligen weiteren Parametern. Statt Schätzungen können präzise Simulationen von Bauabläufen und Betriebsprozessen vorgenommen werden. Ändern sich die Anforderungen, so lässt sich leicht noch vor dem ersten Spatenstich eingreifen. Ferner kann der digitale Zwilling als Planungsgrundlage für die Beschaffung der Baumaterialien und die konkrete Ausführung eines Projekts dienen. Dies ermöglicht die Ableitung von Materiallisten, Zeitplänen und Montageschritten direkt aus dem Modell. Anhand der Daten lässt sich frühzeitig ermitteln, welche Komponenten benötigt werden und wann sie vor Ort sein müssen.

Digitaler Turbo für Planung, Design und Engineering

In modernen Bauprozessen stellt sich sehr früh die Frage: Baustelle oder Fabrik? Welche Gebäudeteile können in einer Fabrik vorgefertigt werden, welche müssen auf der Baustelle konstruiert werden? Bevor ein tonnenschweres Modul um den halben Globus transportiert wird, muss sichergestellt sein, dass alle Spezifikationen passen. Dazu lassen sich 3D-Scans mit dem digitalen 3D-Modell der Kontaktstellen abgleichen, an denen das Modul auf der Baustelle mit der bestehenden Konstruktion „verheiratet“ wird. Diese Kombination aus Digital Twin und modularen Bauverfahren reduziert Bauabfälle, Energieverbrauch und die Bauzeit.

Auf der Baustelle erleichtern digitale Zwillinge in Kombination mit IoT-Technologien eine lückenlose Überwachung des Baus. Ein oft unterschätzter Kostentreiber sind unauffindbare Materialien und Bauteile. Dank RFID lassen sich Chargen genau tracken und der Zeitplan an Verzögerungen anpassen. Auch die Qualitätssicherung kann von der durchgängigen Digitalisierung profitiert. Mithilfe von 3D-Laserscans können fertiggestellte Bauabschnitte mit dem digitalen Plan abgeglichen und so Fehler oder Abweichungen frühzeitig erkannt und korrigiert werden.

Wegbereiter der digitalen Transformation

Ein durchschnittliches Gebäude befindet sich mehrere Jahre in der Entstehung und mindestens 50 Jahre im Betrieb. Da gilt es, die Nutzungsphase möglichst ressourcenschonend zu ­gestalten. Anhand des digitalen Zwillings können Gebäudebetreiber die reale Leistung ihrer TGA mit dem Design vergleichen und mittels Echtzeit-Daten Kontrollen und Wartungen planen. Ein Vorteil digitaler Zwillinge zeigt sich bei der vorausschauenden Wartung (Predictive Maintenance), wie sie im Zuge der digitalen Transformation Fahrt aufnimmt. Sensoren erfassen laufend Betriebsdaten – von Temperaturen und Schwingungen bis hin zu Energieverbräuchen. Diese Daten fließen in den digitalen Zwilling und werden von Künstlicher Intelligenz analysiert. Statt starrer Wartungspläne können Facility Manager gezielt und bedarfsorientiert arbeiten.

In den letzten Jahren haben sich viele Spezialisten in den Ruhestand verabschiedet. Die jungen Nachfolger verstehen sich als Connected Worker und erwarten von einem attraktiven Arbeitgeber digitalisierte, agile Workflows. Zudem ist ein lückenloses Wissensmanagement unabdingbar, um Spezialwissen über Generationen zu erhalten. Die richtige Umgebung dafür schafft der digitale Zwilling. Damit lassen sich 3D-Modelle und -Pläne einer Anlage in eine Augmented-Reality-Umgebung überführen, die sich zu Ausbildungszwecken eignet. Mit dem demografischen Wandel stellt sich darüber hinaus die Frage, wie die vorhandenen Fachkräfte besser eingesetzt werden können: „do more with less“. Automatisierte Prozesse und KI-gestützte Entscheidungen können dabei ein wichtiger Hebel sein. So könnte eine KI bestehende Prozesse innerhalb einer Anlage analysieren und empfehlen, wo der Einsatz von Robotern sinnvoller als der eines Menschen wäre.

Um- und Rückbau: Nachhaltigkeit bis zum Schluss

Gegen Ende des Gebäudelebenszyklus beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit: Je länger die Modernisierung, der Umbau oder der Rückbau in Anspruch nimmt, desto teurer wird es. Ohne digitale Unterstützung machen veraltete Pläne und unvollständige Dokumentationen dies zu einem mühsamen Unterfangen. Soll eine bestehende Industrieanlage zu einem neuen Zweck genutzt werden, liefern Simulationen alle Informationen, die für den Umbau oder den Rückbau notwendig sind. Das Modell zeigt den aktuellen Zustand der Anlage detailgetreu, inklusive aller baulichen Veränderungen, die während des Betriebs vorgenommen wurden. Für den Abgleich des Modells mit der gebauten Realität sind 3D-Scans wieder sehr nützlich. Sie zeigen, welche Bauteile wie miteinander verbunden sind und wie sich die Anlage am besten demontieren lässt. Um die Entsorgung zu erleichtern, können Materialmengen genau berechnet und Recyclingprozesse geplant werden. IoT und GPS erfassen dabei den Weg bis zur Entsorgung.

Um die Potenziale eines durchgängig digitalisierten Gebäudelebenszyklus auszuschöpfen, müssen die Lücken mit Sinn und Maß geschlossen werden. „Die digitale Transformation eines Unternehmens ist kein IT-Projekt, sondern ein Change Projekt“, betont Peter Wilson, Executive Industry Consultant bei der Hexagon Asset Lifecycle Intelligence. „Technologien sollten nie Selbstzweck sein. Der Fokus liegt immer auf dem Mehrwert, der geschaffen werden soll, auf der Vision des Unternehmens - daraus leitet sich die Roadmap zur Umsetzung ein. Die eingesetzte Technologie ist ein Teil dieser Roadmap. Technologiepartner mit dem passenden Portfolio und Know-how können wertvolle Verbündete sein, um eine zukunftsfähige und skalierbare Infrastruktur für die Umsetzung der Vision zu schaffen.“

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